Predigt von Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff, Aachen

Predigt beim Pontifikalamt anlässlich der Investitur der Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem im Mainzer Dom am 10.10.2015 um 15.30 Uhr
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Lk 15-11-32
Liebe Ritter und Damen vom Heiligen Grab zu Jerusalem!
Liebe Schwestern und Brüder im gemeinsamen Glauben!
Verehrte Gäste!
Papst Franziskus hat ein außerordentliches Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen, das vom 8. Dezember 2015 bis zum Christ-König-Fest 2016 gehen soll. Es ist ein notwendiges Stichwort, das Jesus mehrfach verwendet und auf den himmlischen Vater bezieht. Dieses
Wort – so tröstlich uns zugesagt – trifft heute auf die bedrängende Wirklichkeit von Katastrophen und Krankheiten, Vertreibung und Flucht, Grausamkeit und Gewalt, Mord
und Totschlag – wohin wir schauen, sich selbst immer wieder überbietend, unendliche nie
enden wollende Not. Menschen, entrechtet, arm gemacht, der Würde beraubt. In welcher
Welt leben wir heute?

Gibt es Wege zu Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung? Wie geht Versöhnung? Wie können wir Schritte auf Versöhnung hin tun? Dieser Weg wird viel Schweiß kosten und
Tränen bringen. Er wird Geduld verlangen. Er wird Vertrauen in die Ehrlichkeit und
Ernsthaftigkeit des Friedenswillens erfordern und an den Glauben gebunden sein, dass
Versöhnung und Friede möglich sind – besonders den Christen im Heiligen Land und im
Nahen Osten, denen wir als Ritter vom Heiligen Grab verpflichtet sind und in der globalen
Welt, in der Solidarität so schwer gelebt wird.

Eines der berühmtesten Gleichnisse Jesu kann uns helfen, die Situation zu bedenken. Es
ist das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Vater und vom verlorenen Sohn bzw. von den
ungleichen Brüdern (Lk 15,11-32). Es passt gut in die gegenwärtige, so verworrene Geschichte.

Im Gleichnis vertritt der ältere Bruder die Ordnung und der jüngere Bruder die Freiheit. In
seiner Sehnsucht nach absoluter Freiheit antizipiert der jüngere Bruder gleichsam den Tod
des Vaters; denn das Erbe erhält der Erbe mit dem Tod des Vaters. Hier fällt mir immer die
theologische Rede vom Tod Gottes ein, die die Dynamik entfaltet, Gott tot zu reden. Der
jüngere Sohn fordert sein Erbe; der Vater gibt es ihm und der jüngere Sohn bricht in die
Fremde auf. Wir wissen, wie er scheitert und ihm der Gedanke kommt heimzukehren. Das Motiv seiner Heimkehr ist nicht besonders edelmütig. Er hat einfach Hunger. Er geht der Vision eines besseren Lebens nach und ist sogar bereit, die Stellung eines Sohnes gegen die Rolle eines Tagelöhners zu tauschen. Auf dem Weg nach Hause überlegt er eine Bußformel und wiederholt sie ständig: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deinem Tagelöhner.“

„Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin nicht mehr
wert …“

Er kehrt nach Hause zurück – und jetzt kommt der entscheidende Moment, nicht nur für
ihn, sondern auch für den Vater und für den älteren Bruder. Hätte der Vater moralisch
triumphieren wollen, hätte er ihn mit Vorwürfen überschüttet. Er hätte zu seiner Begrüßung
gesagt: „Jetzt zeigt sich, wer Recht hatte!“ – Er hätte seinen Sohn in gewisser Weise
getötet, moralisch tot gemacht. Er hätte in ihm wohl endgültig den Sohn verloren. Er hätte
tatsächlich nur noch einen weiteren Tagelöhner gehabt. Der Vater jedoch lässt ihn gar
nicht die Bußformel zu Ende sagen und schließt ihn in seine Arme. Durch seine
großzügige Liebe hat der Vater ihn wieder ins Leben gerufen und gerettet.

Derselbe Augenblick hat auch für den anderen Sohn eine wertvolle Chance für eine
Umkehr. Hätte auch er seinen Bruder ähnlich empfangen wie der Vater, wäre es zu einem
wirklichen Happy End gekommen: Beide hätten begriffen, dass Freiheit ohne Ordnung
immer scheitern muss, dass aber auch Ordnung nicht ohne Freiheit leben kann. Der ältere Bruder ist jedoch nicht imstande, seinen Bruder als Bruder anzunehmen; in seinem Wort an den Vater – voller Vorwürfe und Eifersuchtsambitionen – nennt er ihn „der da, dein
Sohn“: „Kaum ist der da gekommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat …“
Nebenbei von Prostituierten ist in der Geschichte vorher nicht die Rede, sondern es heißt: „er führte ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen .. „; es ist hier wohl die
typische eigene Sexualphantasie eines Frommen, die auf andere projiziert wird.

Der ältere Sohn kam von der Feldarbeit und hörte Musik und Tanz. Er fragte die Knechte,
was der Festlärm bedeute und hörte, dass sein Bruder heimgekehrt sei und der Vater das
Mastkalb habe schlachten lassen aus Freude, dass der Jüngere heil und gesund wiedergekommen sei. Der ältere Bruder wurde „zornig“ und wollte nicht ins Haus gehen. Da kam der Vater heraus und wollte ihm gut zureden. Er nennt ihn „mein Kind“ – ja, während der Jüngere erwachsen wird, nicht nur durch seinen Mut zu Abenteuern  aufzubrechen und durch sein Scheitern, sondern vor allem durch seine Umkehr und seine Aufnahme, bleibt der ältere Bruder in seinem Trotz infantil, abhängig und unreif. Er denkt nur an sich, kreist wie ein Kind um sich selber und um seine eigenen Interessen und Wünsche. Er denkt gar nicht an die Zukunft seines Bruders. In seinem Herzen hat er ihn abgeschrieben; ähnlich wie Kain fühlt er sich nicht als „Hüter seines Bruders“; er will keine Verantwortung für ihn tragen. Und der Vater sagt es ihm noch einmal: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“

Was sagt uns dieses Gleichnis Jesu in unseren konfliktären Prozessen, wenn wir Frieden
schaffen wollen? Wie geht Versöhnung? Wie geschieht Ausgleich und Einsicht? Zwischen
dem jüngeren Bruder, der alles verprasst hat, was der Vater ihm gab und dem älteren
Bruder, der immer treu seine Arbeit tat und nun nicht einsieht, dass ein Fest gefeiert
werden muss! Wie ist das bei den Konflikten im Heiligen Land, wo die Gegensätze nicht
enden wollen und die Kette der Vorurteile, Untaten und Gewaltausbrüche weiter geknüpft
wird.

Es fehlt das Vertrauen. Ohne Vertrauen ist kein Staat zu machen, kann Demokratie nicht
gelingen! Es bedarf vertrauensvoller Maßnahmen durch Beteiligung (participación) an der
Macht, durch gerechte Gesetze und ihre getreue Anwendung. Es bedarf des Kampfes
gegen Korruption und um die Beteiligung der arm gemachten und entrechteten Bürger. Es
bedarf einer klaren ökologischen und sozialen Marktwirtschaft und einer entsprechenden
politischen und wirtschaftlichen Ethik, wie Papst Franziskus sie in „Laudato si“ anmahnt.

Liebe Schwestern und Brüder!
Es gibt nur wirkliche Versöhnung, wenn Vertrauen wächst, wenn gilt, was ausgehandelt ist, wenn das Bewusstsein von Gerechtigkeit Allgemeingut ethischen Handelns wird.

Am Schluss möchte ich unseren Blick auf den barmherzigen Vater richten. Er ist der gütige Vater, der nicht aufrechnet und einfordert, was Recht und Gerechtigkeit verlangen,
sondern der einfach gütig ist, alle Menschen ohne Unter-schied gut behandelt, der den
jüngeren Bruder in seine Arme schließt, ihn als Sohn behandelt und ein Fest der Freude
feiert, denn er war tot und lebt wieder. Wir brauchen einen guten Vater, der auch um den
älteren Sohn wirbt, dass auch dieser seinen jüngeren Bruder annimmt, ihn ins Boot holt;
damit dieser dem jüngeren Bruder vergibt und verzeiht.

Die Kirche hat ein reiches Wissen um ein rechtes Leben. Sie lehrt Wahrheit, Gerechtigkeit
und Versöhnung. Die Grundweisung Jesu besteht in der Gottes- und Nächstenliebe. Sie
ist entfaltet in den zehn Geboten, die Weisungen für ein gutes Leben sind. Die Kirche weiß
sich einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft verpflichtet.

Jesus ruft zu Umkehr und Glauben. Er mahnt uns zur Barmherzigkeit. „Seid barmherzig,
wie es auch euer Vater ist“ (Lk 6,36). Misericordia ist das lateinische Wort für Barmherzigkeit; darin stecken die Wortelemente cor = Herz und miseri = die Elenden. Wir
sollen ein Herz für die haben, die in einer Misere stecken und denen es miserabel geht.
Wir sollen ein Herz haben für die entrechteten und arm gemachten Menschen, die fliehen
mussten vor Gewalt, Vertreibung und Tod, für die kranken und ihrer Würde beraubten
Menschen.

Ritter und Damen des Heiligen Grabes zu Jerusalem sollen wir sein, die aus der Freude
über die Auferstehung des Herrn leben, das Heilige Land lieben und für Friede und
Versöhnung einstehen. Diesen barmherzigen Blick zeigt uns Jesus, indem er uns auf den
barmherzigen Vater weist und uns ein gutes Leben zeigt, das Freiheit und Ordnung zu
einem verantwortungsvollen Leben miteinander verbindet und uns zu Experten der
Barmherzigkeit heranreifen lässt.

Liebe Damen und Ritter, ich gratuliere Ihnen zur heutigen Investitur. Sie treten in eine
Gemeinschaft ein, die engagierte Christen in der Liebe zum Heiligen Land verbindet und
die sich in der Kirche als Christen bewähren wollen in Gottes- und Nächstenliebe.
Amen.